ladzinski eggeling sonnenfeld GAG Kulturkirche Ost
Eggeling, Ladzinski, Sonnenfeld
7. April 2017
Jürgen Becker
25. April 2017

Electronic ID

Neue Neue Musik
„Soundscapes“ betitelte electronic ID sein Konzert in unserer KULTURKIRCHE OST. Das Ensemble junger Musiker aus Köln und Essen bricht mit alten Hörgewohnheiten und weckt damit große Lust auf neue Neue Musik.

So viele ernste junge Menschen sieht man selten, auch und schon gar nicht in der Kulturkirche Ost. Die Konzentration der 14 Instrumentalisten, die an diesem Abend Ensemble electronic ID und S201 bildeten, war bereits vor Beginn des Konzerts mit dem Titel „Soundscapes“ (zu deutsch: Klanglandschaften) deutlich zu spüren. Das verwundert wenig, schließlich eint die Musiker allesamt ein hoher Anspruch, der mit dem geläufiger zeitgenössischer Musik von Pop bis Rock wenig gemein hat.

electronic ID, eine Gründung von Studierenden der Musikhochschulen in Essen und Köln, existiert seit 2014. Der Schwerpunkt liegt auf der Interpretation intermedialer Musik des 21. Jahrhunderts. Neben klassischen Streich-, Blas- und Tasteninstrumenten sowie einer umfangreichen Schlagzeug- und Percussionsektion gehören auch elektronische Klangerzeuger zum festen Line-up, also beispielsweise Sampler und Synthesizer. Und damit nicht genug: Auch Bild- und Videoelemente versteht electronic ID als Teil der Komposition.

Neueste Komposition, große Tradition

Als eine seiner Hauptaufgaben sieht das Ensemble die Aufführung von Stücken talentierter Komponisten der jüngsten Generation. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als aktuelle Musik in der Nachfolge der ganz Großen der Branche – von Bach und Beethoven über Schönberg und Stockhausen bis Pärt und Rihm.

Eine Uraufführung stand an diesem Abend nicht auf dem Programm in der Kulturkirche Ost, mit „Music for something something“ von Jakob Lorenz (geb. 1993) und Lukas Schäfer (geb. 1990) aber immerhin ein Stück, das die beiden 2016 eigens für electronic ID komponiert haben. „Wir haben uns gut überlegt, welche Stücke wir spielen und in welcher Reihenfolge“, erklärte Maximiliano Estudies, in seiner Eigenschaft als Mann am Mischpult so etwas wie der Dirigent der Aufführung. „Wir können das Publikum nicht davon abhalten zu klatschen. Aber wir haben vor, das ganze Programm in einem Zug durchzuspielen – ohne Applaus zwischen den Stücken.“ Ein Konzert wie ein Halbmarathon also – daher auch die gespannte Konzentration aller Beteiligten im Vorfeld.

Den Anfang machte „Artificial Environments Nos. 1 to 5“ von Joanna Bailie (geb. 1973) aus dem Jahr 2011. Streicher- und Klarienetten-Glissandos ergänzten Field Recordings einer urbanen Soundkulisse, dazu erläuterte eine Frauenstimme den Prozess der Komposition. Im zweiten Satz erzeugten dumpfe Sprachfetzen und Geräusche im Zusammenklang mit den Streichern einen ungleichförmigen Rhythmus. Satz drei bildete gewissermaßen den Höhepunkt an Dichte und Intensität: Schwebende Klänge und Harmonien von Streichern und Glockenspiel bauten im Zusammenspiel mit Kirchenglocken, Verkehrsgeräuschen und Kindergeschrei eine Spannung auf, die sich durch die nervenzerreißend langsame Abfolge der Klänge noch steigerte und letztlich keine Auflösung fand. Es folgten Satz 4 – Pauken, Klarinette und Streicher in torkelnder Rhythmik – und Satz 5, eine Collagen-artige Zusammenfassung der vorangegangenen Sätze.

Im Zentrum steht der Klang

Die bereits erwähnte Komposition „Music for something something“ weckte hingegen mit ihren mächtigen verzerrten Geräuschen im Wechsel mit nervösen digitalen Einsprengseln an diesem Karsamstag Assoziationen an den Leidensweg Christi. In jedem Fall machten die ersten beiden Stücke klar, was intermediale Musik in der Vorstellung von electronic ID sein soll: Der Klang – seine Beschaffenheit, seine Formbarkeit und Flexibilität – hat eine viel größere Bedeutung als in der konventionellen Musik. Klare Rhythmusstrukturen werden aufgebrochen oder komplett ignoriert – Mitwippen ausgeschlossen. Dennoch hinterlassen die Kompositionen auch bei ungeübten Hörern nie den Eindruck, als handele es sich dabei um nach dem Zufallsprinzip entstandene Soundcollagen.

Es folgten Stücke von Irene Galindo Quero („A handful of earth“ von 2012, in dem tatsächlich der Klang einer Handvoll Erde, die zu Boden fällt, eine Rolle spielte), Sergej Maingardt („Amnesia“ von 2011) und Sarah Nemtsov („Journal“ von 2015). Zum Schluss nutzte das Ensemble den klanglich reizvollen Raum der Kulturkirche für eine Improvisation, bei der der gewohnte Aufbau – Musiker vor Publikum – kurzerhand umgedreht wurde: Die Musiker spielten im Rücken der Zuhörer.

So gewöhnungsbedürftig die Kompositionen und ihre Umsetzung für einige Zuhörer in der Kulturkirche Ost gewesen sein dürfte – das Konzert zeigte, wie viel Spaß Musik machen kann, die es ernst meint mit der Suche nach völlig neuen Klangerlebnissen. Für das Jahr 2017 hat das aufstrebende Musikerkollektiv noch große Pläne, unter anderem Auftritte zu den Themen Kitsch und Gewalt. Und nach Konzertende sahen die jungen Musiker gar nicht mehr so ernst aus – sondern ließen den Auftritt ganz entspannt und mit einem Lächeln bei einem Glas Wein Revue passieren. Prost!

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